- Homo erectus: Seine Kultur
- Homo erectus: Seine KulturNach gegenwärtiger Fundlage war Homo erectus der erste Hominide, der sich bis in den Fernen Osten ausbreitete, da er aufgrund seiner gestiegenen geistigen Leistungsfähigkeit in der Lage war, in höherem Maß kulturelle Mittel zur Anpassung an veränderte Umwelt- und Klimabedingungen einzusetzen. Umgekehrt dürfte insbesondere die Ausdehnung in die Wald- und Steppengebiete der nördlichen Breiten mit ihren langen und kalten Wintern zu einem hohen Selektionsdruck auf diese Frühmenschen geführt haben.Beherrschung des FeuersDie Kontrolle über das Feuer gehört unzweifelhaft zu den wichtigsten technologischen Errungenschaften des Homo erectus und war ein entscheidender Schritt in der Beherrschung der Umwelt.Wahrscheinlich haben die Frühmenschen zunächst längere Zeit mit auf natürliche Weise, etwa durch Blitzschläge, spontane Entzündungen oder Vulkanausbrüche entstandenem Feuer experimentiert, ehe sie die Prinzipien seiner Entzündung und Beherrschung entdeckten. Als sie diese dann entdeckt hatten, eröffneten sich ihnen bis dahin ungeahnte Möglichkeiten. Die Feuer spendeten Licht und Wärme, vertrieben lästige Insekten und wilde Tiere und ermöglichten neue Formen der Holzbearbeitung. Das Nahrungsspektrum wurde erweitert, denn bisher ungenießbare oder unverdauliche Tier- und Pflanzenteile ließen sich über dem Feuer rösten oder garen und so in schmackhafte Speisen verwandeln. Nicht zuletzt dürften die Feuerstellen auch eine wichtige Funktion für die soziale Entwicklung unserer Vorfahren gehabt haben. So waren sie sicherlich Orte der Geselligkeit, an denen die Gruppenmitglieder zusammenkamen, um Erfahrungen auszutauschen und weitere Unternehmungen zu planen. Und vielleicht hat auch die menschliche Lust am Erzählen und Hören von Geschichten ihren Ursprung an den Lagerfeuern des Homo erectus.Die frühesten Hinweise darauf, dass sich die Frühmenschen das Feuer zunutze machten, geben Fundstellen in Kenia, unter anderm bei Chesowanja. Dort wurden neben Steinwerkzeugen und Tierknochen große, rund 1,5 Millionen Jahre alte Klumpen gebrannten Lehms gefunden, der auf etwa 400 bis 600ºC erhitzt worden war, was etwa der Temperatur eines Lagerfeuers entspricht. Allerdings bleibt unklar, ob es sich hierbei wirklich um von Menschen entzündete Brandstellen handelt, könnten doch auch natürliche Feuer, wie die in den afrikanischen Savannen häufig schwelenden Buschbrände, dieselben Spuren hinterlassen haben.Wesentlich eindeutiger zu interpretieren sind dagegen großflächige, dicke Ablagerungen von Asche sowie dünnere Aschelinsen, die, kombiniert mit Resten von Holzkohle, verkohlten Knochen und angebrannten Steinen, in Sedimentschichten der Höhle von Zhoukoudian, aber auch an andern Orten in China, zum Beispiel bei Lantian und Yuanmou, an den europäischen Fundstellen Lazaret, Terra Amata (Frankreich) und Vértesszőllős (Ungarn) sowie in verschiedenen Teilen Afrikas entdeckt worden sind. Zwar ist auch bei diesen Brandspuren nicht auszuschließen, dass die jeweiligen Feuer auf natürliche Ursachen zurückzuführen sind, doch häufen sich seit dem mittleren Pleistozän Hinweise auf Feuerstellen bezeichnenderweise an eben jenen Stellen, an denen Menschen Siedlungsspuren hinterlassen haben. Die traditionelle Hypothese allerdings, wonach die Verfügungsgewalt über das Feuer Voraussetzung für die Ausbreitung des Menschen vom afrikanischen Kontinent aus in kühlere Klimate gewesen sei, wird von den bisherigen Funden weder bestätigt noch widerlegt.Werkzeugtechnologie des AcheuléenUntrennbar mit Homo erectus verbunden ist eine neue Steinbearbeitungstechnologie, das Acheuléen. Nach einer archäologischen Fundstelle bei St. Acheul in Nordfrankreich benannt, zeichnet sich diese Industrie durch die Herstellung recht großer, ovaler oder zugespitzter, beidseitig behauener Faustkeile aus. Sie erforderte ein deutlich höheres Maß an Vorstellungs- und Planungsfähigkeit und nicht zuletzt auch an handwerklicher Geschicklichkeit als die Fertigung der Werkzeuge des Oldowan, zu der nur einige »Hammerschläge« nötig waren. Bei den zur Längsachse ungefähr symmetrisch geformten, abgeflachten Faustkeilen handelt es sich um die ersten nach einem standardisierten Muster produzierten Artefakte, deren Herstellungsweise von Generation zu Generation tradiert wurde. Daneben waren andere, ähn- liche Werkzeuge in Gebrauch, so besonders in Afrika der Cleaver oder Spalter mit seiner axtähnlichen Schneide. In den Werkzeugansammlungen des Acheuléen finden sich weiterhin einfache Oldowan-Artefakte, wie Schaber, Abschläge und Geröllgeräte, sodass es offenbar nicht zu einer raschen Ablösung der Oldowan-Technologie gekommen ist. Vielmehr hatten auch diese Werkzeuge in unterschiedlicher Häufigkeit neben den Faustkeilen oder verwandten Formen der nachfolgenden Industrie Bestand.Die ältesten Steinwerkzeuge des Acheuléen-Typs wurden in rund 1,4 Millionen Jahre alten Ablagerungen in Ostafrika — am Turkana-See (Karari) und in Äthiopien (Konso-Gardula) — nachgewiesen, von wo aus sich ihre Industrie über den gesamten Kontinent ausbreitete. An den frühen Fundplätzen Europas — wie etwa bei Le Vallonnet (Frankreich) oder bei Kärlich — fehlen die typischen Acheuléen-Werkzeuge noch. Erst an Fundplätzen mit einem Alter von weniger als 600 000 Jahren finden sich die charakteristischen Faustkeile. Der Grund hierfür liegt noch weitgehend im Dunkeln.Sollten sich in Europa Industrien ohne Faustkeile entwickelt haben, da vielleicht geeignetes Rohmaterial fehlte, oder sind die Werkzeuge in dem bisher gefundenen Material nur zufällig nicht vorhanden?Insgesamt machen die bisherigen Funde jedoch deutlich, dass die Acheuléen-Werkzeuge geographisch weit verbreitet waren und dass sie über einen langen Zeitraum hinweg hergestellt wurden. Dennoch sind kaum Veränderungen in ihrer Grundstruktur zu beobachten. Homo erectus war vielmehr in seinem Verhalten vergleichsweise konservativ. Lediglich an das jeweils vorhandene Rohmaterial wusste er seine Werkzeugtechnologie offensichtlich anzupassen. So ist nach Ansicht vieler Forscher die geringe Zahl von Steinwerkzeugfunden in Teilen Ostasiens dahingehend zu interpretieren, dass hier ein anderer, weit verbreiteter Rohstoff genutzt wurde, das Bambusrohr.Die Herstellungstechnik zur Bearbeitung der Werkzeuge wurde im Lauf der Zeit verfeinert, sodass die Artefakte insgesamt gleichmäßiger geformt und symmetrischer wurden. Neben Hammersteinen wurden nun auch »weichere« Materialien wie Knochen oder Äste als Produktionswerkzeuge eingesetzt, die eine gefühlvollere, feinere Bearbeitung des Steins ermöglichten. So entstanden gegen Ende des Acheuléen zum Teil wahre Kunstwerke, wie etwa blatt- oder mandelförmige Faustkeile, deren Oberfläche insgesamt durch feinste Absplitterungen retuschiert ist.Leben als Jäger und SammlerDie Beschaffenheit der Homo-erectus-Fundplätze lässt den Schluss zu, dass diese Frühmenschen vorwiegend als nomadische Jäger und Sammler lebten, was selbstverständlich nicht ausschließt, dass sie gelegentlich auch Aas verwerteten. Nüsse, Früchte, Samen und Wurzeln machten je nach Jahreszeit und lokalen Gegebenheiten einen unterschiedlichen, wichtigen Teil ihrer Ernährung aus. Doch insbesondere während der langen Kaltzeiten in Europa und weiten Teilen Asiens war das Angebot an pflanzlicher Nahrung nicht ausreichend, sodass letztlich Fleisch einen wichtigen Platz auf dem Speisezettel des Homo erectus einnahm.Er erbeutete kleine Nagetiere und Insektenfresser, ja selbst Flusspferden, Nashörnern und Elefanten galt die Jagd. Überdies wurden in der Höhle von Zhoukoudian unter anderm Knochen von mehr als 3000 Individuen zweier großer, schneller, heute ausgestorbener Hirscharten gefunden, die zeigen, dass Homo erectus bereits ein recht geschickter und erfolgreicher Jäger gewesen sein muss. Eier, Fisch und Muscheln schließlich ergänzten an einigen Orten seine Kost.Zum Schutz vor Raubtieren und gegen die Unbilden des Wetters lebten die Frühmenschen vermutlich wie bei Zhoukoudian in natürlichen Höhlen, und einige Forscher machten — vor allem in Europa — sogar einfache Wohnbefestigungen aus, die dem gleichen Zweck gedient haben dürften. Zudem finden sich Hinweise auf eine gewisse Unterteilung der Lagerplätze des späten Homo erectus in Arbeitsbereiche und Feuerstellen.Diese und weitere Aspekte deuten auf eine zunehmend komplexere soziale Organisation dieser Frühmenschen hin. Konnte die Ernährung des frühen Homo, die vorwiegend auf gesammelten Pflanzen und Aas basierte, noch durch kleine, wenig strukturierte Gruppen gesichert werden, so war die Jagd auf wehrhaftes Großwild nur im Verband Erfolg versprechend. Damit erforderte sie in weit stärkerem Maß die Fähigkeit zu Planung und Kooperation zwischen den Gruppenmitgliedern und hat wahrscheinlich auch zu einer verstärkten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern geführt. Denn die hilflosen Säuglinge bedurften der Versorgung durch ihre Mütter, und während der deutlich verlängerten Kindheit war eine weit reichende Betreuung erforderlich. Bei einer solchen Fortpflanzungsstrategie war es sicherlich vorteilhaft, wenn sich die Mütter nicht an der gefährlichen und zeitaufwendigen Jagd zu beteiligen brauchten. So waren sie stattdessen vermutlich vor allem für das Sammeln von Pflanzen und anderer Nahrung zuständig, wobei umgekehrt die Versorgung der weiblichen Gruppenmitglieder mit hochwertiger Fleischnahrung vorhandene Paar- und Gruppenbindungen weiter verstärkt haben dürfte. Ähnliches galt wahrscheinlich für die älteren Mitglieder des Verbands, deren Lebenserwartung durch verbesserte Ernährung und größeren Schutz vor Raubtieren gestiegen war. Indem sie sich gleichfalls um die Sicherung der pflanzlichen Ernährung bemühten und mindestens teilweise die Betreuung der Kinder übernahmen, trugen sie zur Stärkung der sozialen Bindungen bei.Dabei liegt auf der Hand, dass eine komplexere Organisation des Sozialverbands den Lernprozess der heranwachsenden Generation verlängerte, in dem nicht nur handwerkliche Fähigkeiten erworben wurden, sondern auch die Übernahme der verschiedenen sozialen Rollen und Gruppennormen eingeübt werden konnte, die zunehmend an Bedeutung gewannen. Soziales Lernen, Arbeitsteilung und Kooperation wie auch stabile und intensive Sozialbeziehungen setzen ein vergleichsweise gut entwickeltes System symbolischer Kommunikation voraus. Wenn auch seine Sprachfähigkeit sicherlich noch nicht so ausgeprägt war wie die des modernen Menschen, so dürfte sie doch schon eine entscheidende Rolle bei der Koordination des sozialen Lebens gespielt haben. Mit all diesen Fortschritten markiert Homo erectus einen wesentlichen Wandel in der Anpassungsstrategie, der die weitere Evolution zum heutigen Menschen entscheidend bestimmte.Prof. Dr. Günter Bräuer und Jörg ReinckeWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Mensch: Wo entstand der moderne Mensch?Grundlegende Informationen finden Sie unter:Homo erectus: Kennzeichen und EvolutionBräuer, Günter: Die Entstehungsgeschichte des Menschen, in: Brockhaus. Die Bibliothek. Grzimeks Enzyklopädie Säugetiere, Band 2, S. 490-520. Leipzig u. a. 1997.Bräuer, Günter: Vom Puzzle zum Bild. Fossile Dokumente der Menschwerdung, in: Funkkolleg Der Mensch. Anthropologie heute, herausgegeben vom Deutschen Institut für Fernstudienforschung an der Universität Tübingen, Heft 2. Tübingen 1992.Die ersten Menschen. Ursprünge und Geschichte des Menschen bis 10000 vor Christus, herausgegeben von Göran Burenhult. Aus dem Englischen. Hamburg 1993.Evolution des Menschen, herausgegeben von Bruno Streit. Heidelberg 1995.Evolution des Menschen, Band 2: Die phylogenetische Entwicklung der Hominiden, bearbeitet von Peter Schmid und Elke Rottländer. Tübingen 1989.GEO Wissen, Heft 2/1998: Die Evolution des Menschen. Hamburg 1998.Hominid evolution. Past, present and future, herausgegeben von Phillip V. Tobias. Neudruck New York 1988.Johanson, Donald und Edey, Maitland: Lucy. Die Anfänge der Menschheit. Aus dem Amerikanischen. Neuausgabe München u. a. 21994.Leakey, Richard: Die ersten Spuren. Über den Ursprung des Menschen. Aus dem Englischen. 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Universal-Lexikon. 2012.